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Rafael Gil Brand

„Die Geburt der Venus“

Der Goldene Schnitt – die „göttliche Proportion“, wie es die Platoniker nannten – taucht überall als Gestaltungselement in der organischen Natur auf. Dieses göttliche Maß war den alten Weisen und Künstlern sehr bewusst, und so sind viele der großen Bauten und Gemälde seit dem Altertum nach diesem harmonischen Verhältnis geschaffen. In meinen Studien zu verschiedenen Komponenten der klassischen und vedischen Astrologie hat sich immer wieder gezeigt, wie auch dem astrologischen System der goldene Schnitt eingewoben ist.

Ein schönes Beispiel, in dem Astrologie, bildhafte Gestaltung und die göttliche Proportion miteinander verbunden sind, ist „Die Geburt der Venus“ von Sandro Botticelli.

Das Bild zeigt die Göttin Venus – Aphrodite, die Schaumgeborene - wie sie auf einer großen Muschel stehend ans Land gespült wird. Links von ihr schwebt ein ineinander verschlungenes, geflügeltes Paar, aus deren Mündern der Wind pustet, der die Venus über das Meer trägt. Rechts am Ufer sehen wir eine schön gekleidete Frau, die dabei ist, Venus einen roten, mit Blumen bestickten Umhang überzuwerfen. Alle drei bzw. vier Figuren stehen im Vordergrund des Bildes, seltsam abgehoben vom Untergrund, auf dem sie teilweise zu stehen scheinen.

Bekanntlich haben die Künstler der Antike, des Mittelalters und der Renaissance ihre Bilder, Skulpturen und Bauten gerne mit dem Maß des Goldenen Schnittes konstruiert. Der Goldene Schnitt ist das Verhältnis zweier Abschnitte, sodass sich der kleinere zum größeren so verhält wie der größere zum Ganzen. Er ist der mathematische Ausdruck des Prinzips der Analogie, wonach sich das Ganze in seinen Teilen widerspiegelt. Die Alten wussten schon, dass diese „göttliche Proportion“ in der Natur und im Bau des menschlichen Körpers allgegenwärtig war, und im Auge des Betrachters den Eindruck idealer Harmonie hervorruft.

Botticelli war sich sicherlich auch bewusst, dass die Konjunktionen des Planeten der Schönheitsgöttin mit der Sonne ein fast perfektes Pentagramm am Himmel bilden, eine geometrische Figur, die unmittelbar die Proportion des Goldenen Schnitts offenbart: wie auf der Zeichnung zu sehen, ist das mathematische Verhältnis zwischen dem längeren Abschnitt b einer Pentagrammlinie und dem kürzeren Abschnitt c exakt gleich dem Verhältnis zwischen der gesamten Linie a und dem größeren Abschnitt b.

Es ist zu erwarten, dass Botticelli in seiner Darstellung der Venus besonders regen Gebrauch von dieser Proportion gemacht hat. So ist das Format des Bildes schon ein perfektes „goldenes Rechteck“, dessen Breite zur Höhe das besagte Verhältnis hält. Aber das gesamte Bild ist bis ins Detail anhand des goldenen Schnitts komponiert.

Wenn wir das Gemälde in seiner Längsrichtung - von oben und von unten – durch den Goldenen Schnitt teilen (rote Linien), so erkennen wir, dass die obere Linie genau entlang des Horizontes verläuft, Himmel und Meer voneinander trennend. Auf dieser Linie liegt der Nabel der Venus. Bei einem wohlproportionierten Menschen – so auch in dieser Figur – liegt der Nabel im Goldenen Schnitt zwischen Scheitel und Sohlen. Er bildet quasi die Mitte des Bildes. Im unteren Abschnitt reicht die Muschel, auf der Venus steht, genau bis an die Grenze zum mittleren Bereich. Teilen wir den Abschnitt oberhalb des Horizonts, in dem sich die Bewegung der Gestalten hauptsächlich abspielt, wiederum durch die göttliche Proportion (magentafabene Linie), so verläuft die Linie mitten durch Aphrodites Gesicht, und berührt den Scheitel der Frau auf der rechten Seite. Auf der linken Seite verläuft sie zwischen den Augen des geflügelten Jünglings.

Wenn wir das Bild in analoger Weise in vertikaler Richtung (blaue Linien) aufteilen, so finden wir ebenfalls eine klare Struktur: Die Linien trennen präzise die linke und rechte Figur von der im mittleren Bereich quasi für sich allein stehende Göttin, deren verträumter, leicht in sich gekehrter Blick in den Raum außerhalb des Gemäldes schweift. Während die anderen Gestalten ganz auf Venus in der Mitte bezogen sind, richtet sich ihr Blick nach außen, das Umfeld des Betrachters quasi einbeziehend.

Entlang der rechten vertikalen Linie, die mit dem restlichen Bild ein Quadrat bildet, verläuft auch die Grenze zwischen dem Meer und dem Land. Der rechte Teil des Bildes, den die gekleidete Gestalt auf festem Boden fast vollständig ausfüllt, bildet natürlich wieder ein „goldenes Viereck“, diesmal im Hochformat.

Wir können den mittleren Bereich wiederum im goldenen Verhältnis aufteilen (hellblaue Linien) und erkennen, dass Venus fast vollständig den Raum rechts einnimmt, wobei die rechte Linie ihr Gesicht, ihre Hand, ihren Nabel und ihre Scham verbindet. Diese ist die zentrale Achse des Bildes, die im Nabel auf die anderen, schon oben erwähnte horizontale Achse trifft.

Kunsthistoriker gehen allgemein davon aus, dass der Jüngling auf der linken Seite den Zephirus darstellt, den feucht-milden, der Natur der Venus entsprechenden Westwind. Nun ist diese Deutung sicherlich stichhaltig, sie verschmilzt aber meines Erachtens mit einer astrologischen Symbolik, die weitgehend unerwähnt bleibt – möglicherweise aus mangelnder Kenntnis astrologischer Zusammenhänge, die aber jedem gebildeten Menschen der Renaissance durchaus bewusst waren.

Wie schon Franz Keim in seiner astronomischen Auslegung des Gemäldes aufzeigt (Sandro Botticelli: Die astronomischen Werke, Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2015), ist diese geflügelte Gestalt mit Merkur zu identifizieren. Die beiden weiblichen Figuren sind eindeutig zwei weitere Darstellungen der Venus, wie man vor allem an der Haarpracht und an der hellen makellosen Haus leicht erkennen kann. Aber was stellen sie dar? Nach meiner Überzeugung hat Botticelli in seinem Gemälde eine Allegorie des Falls und der Erhöhung der Venus darstellen wollen.

Wir alle kennen Merkur als einen Planeten, der wechselhaft und geschwind ist - wie der Wind. In der damals sehr verbreiteten meteorologischen Astrologie galt Merkur als der Planet, der die Winde bewegt. Im astrologischen System ist das Hauptdomizil des Merkur das Zeichen Jungfrau, und in diesem Zeichen befindet sich – auf 27° - der Fall der Venus. Das ist die Stelle, an der Venus am schwächsten ist.

Nun finden wir in Botticellis Bild diese Venus verbunden mit Merkur, halb von diesem getragen, halb sich an ihn klammernd. Sie ist nicht ganz zu sehen, weil ihr Körper von Merkur bedeckt wird, und ihr Blick drückt eine gewisse Unruhe und Anspannung aus. Hier ist Venus mit einem derben, schmucklosen Umhang nur notdürftig bedeckt. Es zeigt die Venus in ihrem Fall, abhängig und überschattet von Merkur, der im Zeichen der Jungfrau herrscht. Um die Idee des Falls zu unterstreichen, hat Botticelli die beiden Gestalten umgeben von fallenden Blüten.

Auf der anderen Seite finden wir Venus in ihrer Erhöhung, prächtig gekleidet in einem strahlend weißen, mit blauen Blumen geschmückten Gewand. Anders als auf der gegenüberliegenden Seite ist ihr Haar geflochten und gepflegt. Sie wird von keiner Gestalt bedeckt und ihr Gesicht drückt Ruhe und Würde aus. Diese Venus ist selbstbewusst. Eigenständig und mit sicherer Geste wirft sie der aus dem Meeresschaum Geborenen den roten, ebenfalls mit Blumen versehenen Umhang um. Und während die beiden Gestalten auf der linken Seite Venus „wegpusten“, wird sie von ihrer Erhöhung empfangen.

Dass die Venus in dieser Stellung gekleidet und gepflegt ist mag ein Hinweis sein auf Jupiter, dem Herrscher im Zeichen Fische, der in der klassischen Astrologie für Würde und moralische Gesinnung steht. Sie steht auf der Erde, aus der hohe, dicht belaubte Bäume wachsen. Das Hauptdomizil der Venus ist nach klassischer Lehre das Erdzeichen Stier, welches wie kein anderes der Inbegriff des Frühlings und der blühenden Natur darstellt. Wie eine königliche Robe mutet das lebensrote, blühende Gewand an, das die ankommende, rein und unschuldig blickende Venus kleiden soll.

Drei weitere Details in Botticellis Gemälde unterstreichen diese Deutung. Zum einen ist es unverkennbar, dass die neu geborene Venus sich der Erhöhung zuwendet. Nicht nur, dass sie räumlich auf der rechten Seite steht. Sie wird ja auch durch den Wind in diese Richtung getrieben, und ihr ganzer Körper hat sich auf diese Seite verlagert, zum Schritt in Richtung der erhöhten Venus ansetzend.

Außerdem sehen wir, dass ihre linke Gesichtshälfte im Schatten liegt, während die rechte erleuchtet ist. Der Schatten entspricht der Schwächung im Zeichen ihres Falls, die helle Seite der Erhöhung.

Das dritte Detail ist die Blickrichtung der „gefallenen Venus“. Fast sehnsüchtig schaut sie auf ihr erhabenes Gegenpart, und wenn wir eine Linie ziehen, welche die Augen der rechten und der linken Venus verbinden, dann ist diese Linie ca. 3° zur Waagerechten gekippt. Wenn wir aber die Horizontale mit der Achse 0°Waage-Widder identifizieren, so liegen die Augen der gefallenen Venus auf 27° Jungfrau und die der erhöhten Venus auf 27° Fische, dem Grad der Erhöhung von Venus.

Venus entfernt kann sich bekanntlich nicht weiter als maximal 48° von der Sonne. Dies ist ihre größte Elongation. Die Phase, in der sie aber am hellsten strahlt, liegt bei einem Abstand von 36° - im Übrigen der Winkel, den die Spitzen des Pentagramms bilden. Ziemlich exakt in diesem Winkel hat Botticelli den gerade erhobenen Arm der erhöhten Venus gemalt, mit dem sie der zentralen Figur den Umhang überwirft. „Strahlend“ (dïpta) ist übrigens genau der Name, den die Inder einem Planeten in Erhöhung geben. Auch der Kopf der zentralen Venus ist im Verhältnis zu ihrem Hals um einen Winkel von 36° geneigt.

Ein letztes Element in Botticellis Komposition möchte ich Euch nicht vorenthalten. Da in einem „goldenen Rechteck“ die Länge und Breite im Verhältnis des goldenen Schnitts sind, entsteht bei Teilung der gesamten Fläche in eben diesem Verhältnis ein Quadrat und ein kleineres „goldenes Viereck“. Das letztere können wir wiederum in ein Quadrat und ein noch kleineres Rechteck aufteilen usw.

Ich habe das gesamte Gemälde auf diese Weise in immer kleiner werdende Quadrate zerlegt, und die jeweilige Ecken der Vierecke verbunden, so dass eine Spirale entsteht. Es fällt dabei auf, dass die gesamte Komposition dieser Spirale folgt, angefangen bei dem Bein des Hermes, über die Köpfe der umschlungenen Gestalten, über dem geneigten Scheitel der Venus, um dann auf der rechten Seite die Erhöhung der Venus zu säumen, bis zum Fuß in der unteren rechten Ecke. Die Spirale windet sich dann weiter und findet ihr Zentrum direkt am Knie der erhöhten Venus. Solche spiralförmigen Gebilde finden wir übrigens bei manchen Schnecken und Muscheltieren, deren Windungen bekanntlich dem goldenen Schnitt folgen.

Vielleicht ist es Zufall, aber wenn wir das „Herz“ dieser Spirale mit dem Nabel der Venus verbinden, so finden wir (im Verhältnis zur Horizontelen) einen Winkel von fast 48°, der größten Elongation von Venus.
Es ließen sich noch weitere Details dieser faszinierenden Komposition herausarbeiten. Meines Erachtens ist es offensichtlich, dass Botticelli mit diesem Bild nicht einfach das mythologische Motiv der Venus-Geburt darstellen wollte, sondern sein astrologisches und astronomisches Wissen um die Venus auf geniale Weise eingebaut hat. Kein Wunder, war doch die Renaissance das Zeitalter, in dem die europäische Astrologie ihre volle Blüte entfaltete.

Im meinem Buch „Himmlische Matrix“ zeige ich übrigens, wie der goldene Schnitt im traditionellen astrologischen System eingebaut ist. Unter anderem weise ich nach, dass die Erhöhungen der Planeten auf dem goldenen Schnitt beruhen.




Zertifikate

Zertifikate der Grundausbildungen tragen neben dem Namen der Astrologie- und Tarotschule München | Sabine Lechleuthner auch den Hinweis auf Hajo Banzhaf & Brigitte Theler. Für alle, die Astrologie und Tarot beruflich anwenden wollen, ist das ein Qualitätsmerkmal.