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Alexandra Klinghammer

Chiron und die Kraft der Selbstheilung

Mitte April, am Tag als Chiron vom Fische ins Widder-Zeichen wechselte, hielt ich einen Vortrag über die  Qualität des nun beginnenden rund acht Jahre dauernden Transits. Für die Vorbereitung des Abends tauchte ich noch einmal in den Chiron-Mythos ein. Ich las über seine Geburt, über die Ablehnung durch seine Mutter und die Gleichgültigkeit seines Vaters, über seine unheilbare Wunde, die ihm unabsichtlich zugefügt wurde, sowie dem stetigen, erfolglosen Versuch, Heilung zu finden, bis hin zu seinem Tod, durch den er schliesslich Erlösung erfuhr. Dabei wurde mir zum ersten Mal so richtig bewusst, wie patriarchal dieser Mythos eigentlich geprägt ist. So, wie letztlich die meisten Geschichten in der griechischen Mythologie. Was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass die Entstehungsgeschichte dieser antiken Mythen ins erste Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung fällt, also in die Zeit, in der das Widderzeitalter herrschte.

In der Geschichte Chirons wimmelt es entsprechend von männlichen Heldenfiguren, strahlenden Göttern und wilden Kerlen. Die einzige weibliche Figur, von der wir erfahren, ist die Nymphe Philyra, Chirons Mutter. Die  Rolle, die ihr in dem Drama zukommt, ist wenig schmeichelhaft. Als Kronos Philyra begegnet, verliebt er sich sofort in sie. Doch sie lehnt sein Werben ab und flieht vor ihm. Das stachelt Kronos nur noch mehr an, und er beginnt die Nymphe zu verfolgen. Philyra besitzt zwar die Zaubermacht, sich in ein anderes Wesen zu verwandeln, um sich so vor dem Zudringling zu schützen, doch hat sie dem männlichen Eroberungsdrang schliesslich nichts entgegenzusetzen. Kronos wendet eine List an und täuscht sie, damit er sich mit ihr vereinigen kann.

Die Rollen sind etabliert: Hier der willensstarke Draufgänger, der weiss, was er will, und alles in Bewegung setzt, um sein Ziel zu erreichen, dort das wehrlose Opfer. Aus dieser unheilvollen Verbindung geht Chiron hervor. Wir erfahren noch, dass Philyra Chiron verstösst, da sie den Anblick ihres Kindes, das mit einem menschlichen Torso und einem tierischen Unterleib geboren wird, nicht erträgt. Hier klingt unterschwellig das Motiv der Rabenmutter an, die es vorzieht, sich in eine Linde verwandeln zu lassen, als sich um ihr Neugeborenes zu kümmern. Von dem Verbleib Kronos erfahren wir dagegen nichts. Ob es jemals zu einer Begegnung zwischen Vater und Sohn kommt, bleibt im Dunklen.

Die heilende Kraft der Selbstliebe

Melanie Reinhart hat in ihrem Buch CHIRON – HEILER UND BOTSCHAFTER DES KOSMOS 1 sehr  aufschlussreich den Bezug dieses Mythos zu unserer Zeit herausgearbeitet. Sie schreibt: «Die Einsamkeit und Isolation, die aus dieser Kombination einer negativen, abweisenden Mutter und eines abwesenden oder  schwachen Vaters herrührt, ist ein verbreitetes psychologisches Thema unserer Zeit.» Durch die allmähliche Veränderung der gesellschaftlichen Rollen in den letzten Jahrzehnten gehören solche Erfahrungen glücklicherweise mehr und mehr der Vergangenheit an. Genauso, wie wir auch sonst allmählich aus dem Chiron-Mythos herauswachsen.

Eine solche These mag zunächst verblüffen. Doch sind seit der Entstehung des Mythos über 2500 Jahre vergangen – eine beträchtliche Zeitspanne, in deren Verlauf sich unser Bewusstsein verändert und weiterentwickelt hat. Auch wenn die Mythen der griechischen Antike das menschliche Leben und Leiden nach wie vor vortrefflich und tiefgründig zu skizzieren vermögen und uns wichtige Erkenntnishilfen anbieten, stehen wir dennoch heute an einem anderen Punkt. So ist unser jetziges Bewusstsein von anderen Werten beeinflusst und geprägt, als damals zur Zeit des Widderzeitalters. Der Same der revolutionären Kraft der Liebe, die erst mit dem Fischezeitalter durch Jesus Christus in die Welt kam, sollte erst noch gepflanzt werden.

So ist vielleicht zu bedenken, dass Chiron sich deshalb nicht heilen konnte, weil in ihm das Wissen um die erlösende Kraft der Liebe noch nicht ausgeprägt war. Zwar versucht er alles Mögliche, um seiner unerträglichen Schmerzen Herr zu werden. Unablässig ist er auf der Suche nach dem besten Heilmittel, das ihm endlich Erlösung bringen soll. Doch dorthin, wo vielleicht die Lösung seines Problems liegen würde, schaut er nicht. Wir hören nichts davon, dass er sich selbst besondere Fürsorge zuteil werden lässt und sich achtsam und liebevoll um sich selbst kümmert.

Ähnlich handeln auch wir, wenn wir gegen unsere Probleme anrennen, indem wir uns mit aller Macht und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln von ihnen befreien wollen. Der Heilungsprozess unserer chironischen Wunde beginnt aber erst dann einzusetzen, wenn wir uns unsere Hilflosigkeit, unsere Schwäche, unsere Scham und unsere Angst  eingestehen und ihnen ins Auge blicken. So, wie der bekannte Psychologe und Meditationslehrer Jack Kornfield es in seinem Buch DAS WEISE HERZ 2 formuliert, ist es mitunter ein lang andauernder Prozess, die Ursachen unseres Leids loszulassen. «Manchmal heisst das einfach: die Dinge sein lassen, wie sie sind. Sich nicht aus der Erfahrung verabschieden, sondern weicher zu werden und alles geschehen zu lassen.»

Dieses Weicherwerden löst dann umgehend ein spürbares Gefühl der Erleichterung in Körper und Geist aus. Wahrzunehmen und zu akzeptieren, was ist, ist

So ist vielleicht zu bedenken, dass Chiron sich deshalb nicht heilen konnte, weil in ihm das Wissen um die erlösende Kraft der Liebe noch nicht ausgeprägt war.

der erste Schritt auf jedem Heilungsweg. Und das ist die Lehre, die uns der Chiron-Mythos vermittelt. Doch anders als Chiron müssen wir nicht auf den Tod warten, um Erlösung zu finden. Unsere chironische Wunde ist heilbar. Wir können uns von unserem Leiden befreien, jetzt und hier und ein für alle Mal. Doch kann dies nur mit und durch die Liebe geschehen. Erst wenn wir beginnen, unsere Wunde zu lieben – und das ist wirklich revolutionär –, ändert sich damit alles für uns.

Was immer sich zeigt, liebe es

Interessanterweise brach in den letzten Jahren, als Chiron durch die zweite Hälfte des Fische-Zeichens lief, das Wissen um die verwandelnde Kraft der Selbstliebe wie eine zarte Knospe plötzlich im kollektiven Bewusstsein auf. Selbstliebe wurde auf einmal zum Thema. Dabei galt sie lange Zeit in unserer Kultur als verpönt, ganz im Gegensatz zur Nächstenliebe, die als höchstes Ideal gepredigt wurde. Dabei ist Selbstliebe überhaupt erst die Voraussetzung dafür, um unseren Nächsten lieben zu können.

Allmählich reift in uns die Einsicht, wie wundervoll stärkend dieses Urgefühl der Selbstliebe ist und was es alles in uns zu bewirken vermag. In ihm liegt nicht weniger als das Geheimnis der Heilung verborgen. Der spirituelle Lehrer Matt Kahn hat es einmal treffend in fünf Worten zusammengefasst: «Was immer auftaucht, liebe es.» Bei allem, was sich zeigt – sei es ein schmerzhaftes Gefühl, ein negativer Gedanke oder ein schwieriger Umstand – sollten wir versuchen, diesem mit Liebe zu begegnen.

Die amerikanische Ärztin Dr. Christiane Northrup veranschaulicht diese Idee in Anlehnung an Kahn in ihrem Buch WEISHEIT 3 sehr schön. Sie schreibt: «Haben Sie also solche negativen Gedanken, brauchen Sie mehr Liebe, nicht weniger. Ihre Macht liegt darin, mitten in Ihrer Wut innezuhalten, mitten in Ihrem Kummer, Ihrer Frustration, und dann zu erkennen, dass diese Situation eine Gelegenheit darstellt, sich selbst zu danken und zu lieben und nicht zu bewerten. Sie haben die Macht zu sagen: ‹Ich liebe dich, genau jetzt. Genau jetzt, während wir mittendrin stecken.› Wenn Sie das tun, wird sich der wütende, unverbundene Teil von Ihnen auflösen, weil seine Botschaft gehört wurde. Er bekommt die Aufmerksamkeit und Liebe, die er schon immer gebraucht hat.»

Wenn wir uns selbst gegenüber Dank aussprechen, werden wir nicht nur fähig, uns selbst zu lieben, sondern uns selbst auch mehr und mehr zu vertrauen. Denn wir wissen, dass hinter dem, was sich zeigt, eine höhere Weisheit wirkt. In chironischen Erfahrungen liegt sehr viel Weisheitspotenzial verborgen. Das wurde mir selbst angesichts meiner eigenen Chiron-Geschichte vor vielen Jahren das erste Mal bewusst. Bis dahin war es mir immer unangenehm, wenn andere in bestimmten Situationen mitbekamen, dass ich mich unwohl und unsicher fühlte. Mein Körper sendete in solchen Situationen klare Signale, die sich nicht verstecken liessen. Für mich war das immer eine chironische Erfahrung. Doch mit der Zeit begriff ich, dass meine Seele mir in solchen Situationen manches Mal klare Warnsignale schickte. Wenn in der Interaktion mit einem Menschen etwas nicht stimmte, wenn die Absichten der Person nicht positiv waren oder nicht mit offenen Karten gespielt wurde, reagierte mein Körper. Das, was ich bewusst nicht wahrnahm, mein Unbewusstes aber sehr wohl registrierte, kam so zum Vorschein und signalisierte mir, dass es darum ging, mich abzugrenzen. Auch wenn ich von mir nicht behaupten kann, dass ich bereits an dem Punkt bin, meine chironische Wunde vollumfänglich lieben zu können, sehe ich sie dennoch heute mit anderen Augen. In ihr steckt viel Liebe und Fürsorge für mich, für meinen Weg sowie für die Entwicklung meines Potenzials. Und das hilft mir, ihr meinerseits mit Liebe und Fürsorge zu begegnen.

Wenn Chiron nun Ende September für einige Monate wieder zurück ins Fische-Zeichen wechseln wird, bevor er dann Mitte Februar 2019 endgültig seine Reise durch das Widder-Zeichen antritt, können wir die Zeit dafür nutzen, in uns und unserem Leben viele Samen der Selbstliebe zu pflanzen. Auf diese Weise lösen wir nicht nur die Fesseln unseres eigenen Leidens, sondern tragen auch einen Funken der Heilung hinaus in die Welt. 

Fussnoten
1) Melanie REINHART: Chiron – Heiler und Botschafter des Kosmos, Edition Astrodata, CH-Wettswil 1993
2) Jack KORNFIELD: Das weise Herz. Die universellen Prinzipien buddhistischer Psychologie, 9. Aufl., Arkana, D-München 2008
3) Dr. Christiane NORTHRUP: Weisheit. Die ureigene Mitte finden, Arkana, D-München 2017




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Zertifikate der Grundausbildungen tragen neben dem Namen der Astrologie- und Tarotschule München | Sabine Lechleuthner auch den Hinweis auf Hajo Banzhaf & Brigitte Theler. Für alle, die Astrologie und Tarot beruflich anwenden wollen, ist das ein Qualitätsmerkmal.