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Sabine Lechleuthner
Die Fünf der Kelche
5 der Kelche aus dem Rider-Waite-Deck, mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlags
Meistens wird über schöne, helle, freundliche Karten geschrieben. Sie zieren verständlicherweise auch die Covers von Decks und Büchern. Doch es gibt auch dunklere, herausfordernde Karten im Tarot. Dass man hiervor keine Angst haben muss, will ich an der Karte 5 der Kelche verdeutlichen.
Alle Kelchkarten symbolisieren das Wasserelement und zeigen daher eine Verbindung zur musischen, künstlerischen, kreativen Welt, zum Reich der Träume, zum Unbewussten, zu Spiritualität und zu dem Bereich der Gefühle. So eröffnet sich uns auf den Kelchkarten die Bandbreite menschlichen Empfindens von Freude, Harmonie, Liebe, Dankbarkeit bis hin zu Trauer, Unsicherheit, Einsamkeit und Angst.
Die 5 der Kelche gehört ganz eindeutig zu der schwierigeren Kategorie dieses Spektrums. Die Karte des Rider-Waite-Decks zeigt eine Person von hinten, die in einen schwarzen Mantel mit grauen Fäden gehüllt ist und mit gesenktem Kopf in der Landschaft steht. Der Himmel ist grau. Eine Burg, ein Fluss und eine Brücke sind zu sehen, aber die Person scheint davon nichts wahrzunehmen. Direkt vor ihr liegen 3 gelbe umgefallene Kelche, deren Inhalt sich auf den Boden ergossen hat. Hinter der Person befinden sich 2 stehende gelbe Kelche.
Trauer, Kummer, Einsamkeit, Depression, schmerzhafte Enttäuschung sind Stichworte für die 5 der Kelche. Der Blick des Betrachters fällt sofort auf die Person in Schwarz, da sie den gesamten Vordergrund der Karte einnimmt, völlig regungslos dasteht, den Blick auf die umgestürzten Kelche gerichtet.
Man spürt förmlich die Hoffnungslosigkeit und die Bedrückung, die von ihr ausgehen. Hier scheint etwas kaputt gegangen zu sein - vielleicht sogar durch eigenes Zutun - das eventuell nie mehr ganz heil wird. Gescheiterte Hoffnungen, eine beendete Beziehung ... es gibt viele Möglichkeiten. Die ausgegossenen Flüssigkeiten (rot und grün) könnten Energie, Lebenskraft, aber auch etwas, das ihr am Herzen lag, bedeuten. All dies ist „verschüttet“ worden, nicht mehr zugänglich. Doch da stehen noch 2 Kelche - allerdings hinter der Person. Sie müsste also eine Bewegung machen, einen Perspektivwechsel, um sie zu sehen.
Aber das kann sie noch nicht. Kennen Sie das Gefühl, starr vor Kummer zu sein? Erst einmal kann man vor lauter Kraftlosigkeit nichts bewegen, die ganze Energie geht in den Schmerz, ist völlig im inneren seelischen Prozess gebunden. Deshalb lebt man körperlich auf äußerster Sparflamme, Bewegung ist unmöglich. Gleichzeitig – das symbolisiert der schwarze Umhang – ist man unerreichbar für andere, und ein Gefühl von wirklicher Einsamkeit mag sich einstellen. Diese Karte hat etwas Lähmendes.
Jetzt geht es nur um eines: Die Situation aushalten, durchleben, sich dem Kummer, der Enttäuschung, dem Scheitern – auf welchen Gebieten sie auch stattfinden – zu stellen, sich nicht abzulenken. Auch gilt es, den eigenen Anteil an der Entwicklung kritisch zu hinterfragen.
Wir alle wissen: Erst wenn wir am tiefsten Punkt angelangt sind, wir uns untröstlich glauben, dann kommt die Wende, wir können den Kopf wieder ganz langsam heben. Wenn die Person das macht, sieht sie zuerst den Fluss (Gefühlswelt, Nahrung, Leben) und dann die Burg (Sicherheit, Schutz), danach wird sie die Brücke wahrnehmen, den (Aus-)Weg vom momentanen Zustand zu einer neuen Situation, und schließlich wird sie sich umdrehen können, nach hinten (in die Vergangenheit) sehen und erkennen, dass es da doch noch Ressourcen (2 Kelche) gibt, auf die sie zurückgreifen kann. Entweder liegen die Kräfte in ihr oder es sind andere Menschen, Helfer in der Not, die bereit stehen und ihr den Rücken stärken. Es kann weitergehen.
Wir sehen, dass es trotz der Bedrückung einen Hoffnungsschimmer gibt. Man muss ihn nur wahrnehmen.
Und genau hier liegt die Gefahr. Was passiert, wenn man nicht mehr zurückfindet in seine Kraft? Wenn die Person des Rider-Waite-Decks den Perspektivwechsel durch das Umdrehen nicht schafft? Übersetzt: Wenn man sich von den negativen Gefühlen erdrücken lässt? Wenn nach einer Zeit des Kummers kein Ausweg mehr gefunden wird – der doch immer da ist?
Das ist die Warnung, die in der 5 der Kelche liegt. Wir dürfen nicht regressiv im Kummer stecken bleiben. Sich Zeit nehmen für den seelischen Schmerz, innehalten, verarbeiten, Verantwortung übernehmen für den eigenen Anteil am Scheitern – dann findet Wandlung statt, dann kann man wieder in Bewegung kommen, den vorhandenen Ausweg sehen und ihn gehen. Das ist ein ganz natürlicher Prozess auf dem Lebensweg.
In seinem Buch „Tarotweisheiten“ stellt Hajo Banzhaf einen sehr treffenden Ausspruch von Gustav Meyrink dieser 5 der Kelche an die Seite:
„Erst muss der Mensch sich die alten Augen aus dem Kopf weinen, bevor er die Welt mit neuen Augen lächelnd zu betrachten vermag“.
Sabine Lechleuthner