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Rafael Gil Brand
Speerträger – Die Königsgarde von Sonne und Mond
Ein sehr interessantes und brauchbares Konzept der klassischen Astrologie ist das des Speerträgers (griechisch: „doryforos“). Es dürfte wahrscheinlich sehr alt sein, denn es ergibt sich aus der unmittelbaren Beobachtung des Himmels und der Planetenbewegungen. Die Speerträger bilden die Garde des Königs oder der Königin, die astrologisch durch Sonne und Mond symbolisiert werden. Sie kündigen ihre Ankunft an, beschützen und unterstützen sie, und verleihen ihnen dadurch Gewicht und Macht.
Die Speerträger von Sonne und Mond sind vorzugsweise die Planeten, die zur selben Sekte gehören: als Nachtplaneten gelten Venus und Mars, und als Tagplaneten Jupiter und Saturn. Mond und Sonne sind die jeweiligen Anführer dieser beiden Sekten. Merkur – ewiger Zwitter – gilt als Tagplanet, wenn er im Tierkreis vor der Sonne steht, und als Nachtplanet, wenn er weiter fortgeschritten ist als die Sonne.
Die Planeten üben ihre Funktion als Speerträger aber nur aus, wenn sie bestimmte Stellungen einnehmen:
- Wenn Tagplaneten sich im östlichen heliakischen Aufgang befinden, also vor der Sonne aufgehen, dann werden sie zu Speerträgern der Sonne.
Der Planet darf dabei nicht verbrannt sein. Er muss also in einem Abstand von mindestens 15° der Sonne vorangehen, und sollte nicht weiter als zwei Zeichen entfernt sein. Handelt es sich um eine Taggeburt, und stehen entweder die Sonne oder ihr Speerträger (oder beide) in einem Eckhaus, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass der Geborene auf sein Umfeld eine starke Wirkung hat und Prominenz oder Macht erlangen wird.
- Wenn Nachtplaneten sich in den Graden nach dem Mond, oder aber in dem unmittelbar folgenden Zeichen befinden, dann werden sie zu Speerträgern des Mondes.
Dies entspricht einer Applikation des Mondes auf diese Planeten, bzw. einer bevorstehenden Konjunktion per Zeichen, sobald der Mond in das nächste Zeichen eintritt. Handelt es sich um eine Nachtgeburt, und stehen entweder der Mond oder sein Speerträger (oder beide) in einem Eckhaus, dann ergibt sich wieder die beschriebene Sonderstellung des Geborenen.
Merkur kann Speerträger für den Mond oder für die Sonne sein. Als Speerträger der Sonne ist er aber geeigneter, wenn er seine Rückläufigkeitsphase beendet hat und noch nicht die größte Elongation erreicht hat. Das können wir daran erkennen, dass er noch relativ langsam läuft und sich in 24 Stunden nicht mehr als ein Grad weiterbewegt.
In der Abbildung sehen wir zwei Beispiele für typische Speerträgerkonfigurationen der genannten Art. Links ist eine Nachtgeburt abgebildet. Der Mond wird wenig später eine Konjunktion mit Venus bilden, noch dazu im Eckhaus. Venus ist hier also Speerträger des Mondes. Aber auch Mars ist so ein Speerträger, da er sich im nächsten Zeichen befindet. Im Horoskop links sehen wir die Sonne im elften Haus, und Jupiter befindet sich im selben Zeichen im heliakischen Aufgang, da er schon 20° vor der Sonne liegt. Ein besonders starker Speerträger ist hier der Saturn, der ebenfalls vor der Sonne aufgeht, und sich in einem Eckhaus und im Zeichen seiner Erhöhung befindet.
Speerträger sind Planeten, welche die Selbstverwirklichung in besonderem Maße fördern. Sie stellen eine Kraft und Tugend dar, die der Mensch einsetzt, um seinen Weg im Leben zu bahnen. Dies gilt vor allem für die Speerträger der Sonne. Die Speerträger des Mondes haben eine ähnliche Funktion. Es sind Wesenskräfte, denen wir uns besonders zuwenden und die uns darin unterstützen, unseren Wünschen, Gedanken und Vorstellungen Gestalt zu verleihen.
Wenn Speerträger oder das jeweilige Licht dominant gestellt sind – zum Beispiel in einem Eckhaus - verspricht diese Konstellation sozialen Aufstieg, hohes Ansehen und eine führende Position.
Solche Planeten werden zu wichtigen Signifikatoren für den Beruf, den ein Mensch wählt. Auch Planeten der gegenteiligen Sekte können in den beschriebenen Verhältnissen zur Sonne oder zum Mond wichtige Indikatoren für den Beruf sein. Als eigentliche Speerträger, die dem Geborenen Macht und Bedeutung verleihen, sind sie weniger geeignet.
Der spätrömische Astrologe Hephaistio von Theben präsentiert uns im zweiten Buch seiner „Apotelesmatik“ als Beispiel für die eben beschriebenen Speerträger das Horoskop vom Kaiser Hadrian. Sonne und Mond befinden sich im ersten Haus. Es ist eine Nachtgeburt, und der Mond steht mit Jupiter direkt am Aszendenten. Im Zeichen nach dem Mond befinden sich seine Speerträger Venus und Mars, wobei Venus auch noch erhöht steht. Aber auch die Sonne, die kurz davor ist aufzugehen, hat Tagplaneten als Speerträger: Merkur und Saturn sind beide Morgenstern.
Saturn ist auch noch im eigenen Domizil. Merkur ist allerdings schon schnell geworden, weshalb seine Qualifikation als Speerträger meines Erachtens nicht mehr gegeben ist.
Übrigens ist dies ein Beispiel aus späthellenistischer Zeit, das eindeutig siderische Positionen verwendet.
Planeten können auch zu Speerträgern werden, wenn sie von bestimmten Zeichen aus einen Aspekt zu Sonne oder Mond bilden:
- Wenn bei einer Taggeburt ein Tagplanet der Sonne seine Strahlen sendet, und dabei im eigenen Domizil oder in seiner Erhöhung steht, so wird dieser Planet zum Speerträger der Sonne.
Er gibt der Sonne – dem König – kraftvollen Rat. Steht die Sonne oder dieser Planet auch noch in einem Eckhaus, so bildet sich eine mächtige „Königsverbindung“.
- Wenn bei einer Nachtgeburt ein Nachtplanet dem Mond seine Strahlen sendet, und dabei in einer hohen Würde steht, so wird er zum Speerträger des Mondes.
Stehen beide oder zumindest einer von ihnen in einem Eckhaus, und der Mond über dem Horizont, dann ergibt sich auch hier eine starke Kombination für Ansehen und Erfolg.
In der alten Astrologie bedeutet „seine Strahlen senden“, dass der Planet einen Aspekt – Sextil, Quadrat oder Trigon – mit Sonne oder Mond bildet, und dabei in den Zeichen nach dem jeweiligen Licht steht.
Es können aber auch Planeten Speerträger für andere Planeten werden. Um diese Konfiguration zu bilden, müssen zwei Planeten in einer hohen Würde stehen:
- Wenn ein Planet in seiner Sekte (Tag- oder Nachtgeburt), in einem Eckhaus und in einer hohen Würde steht, und dabei von einem anderen, im Zodiak nachfolgend stehenden Planeten die Strahlen empfängt, der ebenfalls im Domizil oder in der Erhöhung steht, so ergibt sich eine machtvolle Konstellation, die Erfolg und Ruhm verheißt.
In dieser Konfiguration spielt der erstgenannte Planet die Rolle, die ansonsten Sonne oder Mond spielen würde. Bildlich gesprochen symbolisiert er einen Menschen in einem hohen Amt, dem ein anderer seine Unterstützung verleiht.
In der Abbildung links sehen wir ein Beispiel für einen Mond mit zwei Speerträgern: Mars und Venus stehen in ihrer Erhöhung, und senden dem Mond ihre Strahlen. Die Aspekte sind applikativ, was die Konfiguration zusätzlich stärkt. In der Abbildung rechts sind zwei Speerträgerkonfigurationen gleichzeitig zu sehen: die Sonne steht im neunten Haus über dem Horizont, und empfängt trigonal die Strahlen von Saturn, der in seinem Domizil steht. Saturn wiederum befindet sich in einem Eckhaus, in seiner Sekte (es ist eine Taggeburt) und über dem Horizont, und erhält ein linkes Quadrat von Mars. Mars sendet Saturn also seine Strahlen von seinem Domizil aus, wodurch er zum Speerträger von Saturn wird.